Seit Emma zurückdenken konnte, lag unter dem Weihnachtsbaum ein überzähliges Geschenk. Jedes Jahr sah es anders aus. Mal war es ein mit goldenen Sternen übersäter
Karton, mal eine kleine Tüte aus indischem Zeitungspapier oder ein dunkelrotes Samtsäckchen. Mal war es so groß wie eine Waschmaschine in Transportverpackung und manches Jahr kleiner als eine
Streichholzschachtel. Mal war es auffällig platziert, mal lag es am Rand.
Nie stand Emmas Name drauf. Aber Emma wusste immer, dass es ihr Päckchen war.
Vom Weihnachtsabend bis Heilig-Drei-König lag es unter dem Christbaum. Dann war es weg. Emma hat sich nie getraut, es aufzumachen oder darüber zu sprechen.
Und auch die anderen taten so, als gäbe es das Paket nicht. Ob sie es überhaupt bemerkten, fragte sie sich. Emma grübelte oft darüber nach, was wohl im Päckchen gewesen wäre.
Hatte es das Christkind gebracht? Aber sie war sich sicher, dass sie nicht brav genug gewesen war, um vom Christkind selbst ein Geschenk verdient zu
haben.
War es von den Eltern? Aber warum sagten sie dann nichts. Wollten sie testen, ob sie bescheiden war. Sie lernten ihr, nicht gierig zu sein. Warum sollte sie mehr
Geschenke bekommen als ihre Geschwister? Vielleicht gehörte es ihr nicht. Wie peinlich wäre es gewesen, das Geschenk eines anderen zu öffnen. Emma war neugierig, aber ängstlich. Später war sie
selbstlos bescheiden. Sie beschenkte lieber andere und glaubte es wäre ein Erfolg, dass sie sich nicht mehr für das Paket interessierte. Es gab Jahre, da sah Emma ihr Geschenk nicht einmal an. So
beschäftigt war sie mit ihren Pflichten: arbeiten, sich sorgen, Kinder erziehen, Gänse braten, lächeln, krank und alt werden.
Selbst im Altenheim lag das Geschenk unter der Kunststofftanne mit den pinken Plastikkugeln. Auch dort bemerkte keiner die graue Dose mit der silbernen
Seidenschleife. Sie verbarg sich hinter der Verteilersteckdose der Lichterkette.
Emma starb am zweiten Weihnachtsfeiertag. Sie war 88 Jahre alt geworden. Am nächsten Tag betrat ein Engel den Aufenthaltsraum. Er musste den Kopf neigen und
seitlich durch die Tür gehen. Dabei faltete er seine vier Flügel eng an den Körper. Die Tür war rollstuhl- aber nicht engelgerecht. Als er durch den Raum schritt, strichen seine Flügel
sacht über die Menschen an den Tischen, die in Spiele, Gespräche oder sich selbst versunken waren. Sie bemerkten ihn nicht. Nur eine Pflegerin erkannte den Engel. Sie berührte seine dunkelgrauen,
glänzenden Federn.
„Ich hole Emmas Päckchen ab.“ Er bückt sich nach der Dose.
„Das ist mir gar nicht aufgefallen“, wunderte sich die junge Frau.
„Aber Emma hat es gesehen und gewusst, dass es ihr gehört.“
„Wir hätten es ihr doch gegeben.“
„Sie hat sich ihr ganzes Leben lang nicht getraut, es aufzumachen. Ich verstehe das nicht. Aber es passiert oft.“
Die Frau starrte den himmlischen Besucher an. „Ihre Hände. Sie glitzern.“
Der Engel lächelte. „Sternenstaub. Der gehörte zu Emmas letztem Geschenk.“
„Was wäre denn drin gewesen?“
„Ich weiß es nicht. Jedes Jahr etwas anderes.“
Der Engel war längst verflogen, als die Pflegerin aus einem kurzen Schlaf hochschreckte. „Achte auf deine Geschenke und nimm sie an“, hallte es in ihren Gedanken
nach. In ihrer Hand hielt sie eine dunkelgraue Feder.
(© Christine Ziegler)
Von Herzen wünsche ich Dir und Deinen Lieben
ein gesegnetes Weihnachtsfest
und
ein gesundes, munteres Neues Jahr!